Reminiszere 2021 – Jes. 5,1-7
So wie sich unsere Gesellschaft stetig wandelt, so verändert sich auch die Sprache. Jede Generation hat bestimmte Ausdrucksformen. Seit einiger Zeit bemerke ich eine sprachliche Veränderung, die mich nachdenklich stimmt. Öfter höre ich den Ausspruch: „Alles gut!“ Ich rufe jemanden an, frage, ob er gerade Zeit zum Telefonieren hat und bekomme die Antwort: „Alles gut!“ Im Supermarkt nehme ich einem anderen Kunden mit meinem Einkaufswagen die Vorfahrt, entschuldige mich und er sagt: „Alles gut!“ Beim Metzger erlebe ich Menschen, die nicht wissen, wer zuerst dran war, und einer lässt dem anderen den Vortritt mit dem Hinweis: „Alles gut!“ Endlos könnte ich hier die Reihe der Beispiele fortführen, in denen im Alltag „alles gut“ befunden wird.
Doch wenn ich mein Leben, unser Leben und die Welt aufmerksam betrachte, werde ich feststellen, dass eben nicht alles gut ist. Im Gegenteil: Es gibt viel Schlechtigkeit, Unrecht, Böses, Enttäuschung.
Davon erzählt heute das Weinbergslied des Propheten Jesaja, dem heutigen Predigttext.
Jes. 5,1-7
(Lassen wir diese Worte eine Weile bei leiser Orgelmusik auf uns wirken)
Es ist das Lied einer enttäuschten Liebe. Enttäuschungen gehören zum Leben dazu und sie können bitter weh tun. Am meisten sind wir von den Menschen enttäuscht, die uns am Nächsten stehen. Man hat viel erwartet, doch wenig hat sich erfüllt. Beispiele gibt es viele: Eltern haben mit Sorgfalt und Liebe ihr Kind großgezogen. Doch nun stellen sie fest, ihre Mühe war umsonst. Das Kind entgleitet ihnen immer mehr. Sie sind enttäuscht, aber auch besorgt. Wird das Kind je wieder zurückfinden? Wie viele junge Paare beginnen ihre Ehe hoffnungsvoll und optimistisch, voller Pläne für ihr Leben zu zweit. Wie groß ist am Anfang ihre Liebe und was ist daraus geworden? Das gemeinsame Leben gelingt nicht. Es ist oft der Kleinkram des Alltäglichen, eigentlich belanglos und doch zermürbend und enttäuschend.
Alles Erdenkliche hat der Weinbergbesitzer für seinen Weinberg getan, liebevoll hat er ihn gehegt und gepflegt. Mehr konnte er nicht tun - und dann die Enttäuschung: Statt guter Trauben trug der Weinberg schlechte Trauben. Die Folge: Der Weinberg wird aufgegeben. Es hat sich nicht gelohnt, in ihn zu investieren. Statt Rechtsspruch war da Rechtsbruch, sagt der Prophet, statt Gerechtigkeit Schlechtigkeit. Der Weinberg hat es nicht besser verdient.
Es ist das Lied der enttäuschten Liebe Gottes, das hier gesungen wird. Wir sind nicht die, die wir sein sollten. So manches fällt auf uns zurück. Gott hat wirklich Grund, enttäuscht zu sein. Manche Folgen unserer Lebensart müssen wir jetzt schon tragen: Die Folgen des immer weiter fortschreitenden Klimawandels, Kriege und Zerstörung, gewaltige Flüchtlingsströme, Ungerechtigkeit, Gier und Neid, und jetzt diese Pandemie, um nur einiges aufzuzählen. Manche Lieblosigkeit meines Lebens holt mich ein, fällt auf mich zurück, mancher Schmerz, den ich anderen zugefügt habe, taucht wieder auf. Ich habe es nicht besser verdient.
Doch dabei möchte ich nicht stehen bleiben. Dabei bleibt auch die Bibel nicht stehen. Gott sei Dank! Gott ist nicht von vornherein ein zorniger Gott, sondern er ist der liebende Gott, der uns Menschen einen Raum geben will, auf dem wir wachsen und gedeihen können. So wie Eltern sich Sorgen machen um ihr Kind, weil sie nur das Beste wollen, so ist Gott auch um seine Menschenkinder besorgt.
„Reminiszere“ heißt dieser Sonntag in der Passionszeit: „Gedenke, Herr an deine Barmherzigkeit und Güte, die von Ewigkeit her gewesen sind.“ Von diesen Worten hat der Sonntag seinen Namen bekommen.
Gott, der so hart mit uns abrechnet, wie wir es heute gehört haben, liebt uns immer noch. Auf diese Liebe will ich setzen. Gerade inmitten der Passionszeit, in der trotz allem eine Ahnung von Ostern liegt.
„Gedenke, Herr An deine Barmherzigkeit und Güte…“
Also: „Alles gut?“ Nein, es ist nicht alles gut. Aber vieles kann gut werden, wenn wir auf Gott vertrauen.
Amen