1. Weihnachtstag 2022
Liebe Gemeinde!
So einen schönen Engel haben wir vor uns auf der Karte, die ich Ihnen gerne schenken möchte. Ein besonderer Engel, den wir allerdings nicht von vorne, sondern nur von hinten sehen können. Das ist ungewöhnlich. Schade, dass wir nicht sein Gesicht sehen können. Dafür aber sehen wir andere Gesichter, nämlich die der Hirten.
Was sind das für Gesichter? Man sieht ihnen an, wie hart, wie schwer das Leben dieser Menschen ist, immer draußen in der rauen Natur, Wind und Wetter und anderen Gefahren ausgesetzt. Die ganz große Freude sieht man in ihren Gesichtern also nicht, oder? Eher Überraschung, Zweifel, vielleicht auch eine innere Abwehr im Sinne von: Was soll das alles? Unser Leben ändert sich ja sowieso nicht.
Die Gesichter der Hirten wirken durch und durch irdisch. Sie sind geprägt von harter Arbeit. Es könnten auch unsere Gesichter sein. Auch wir kennen harte und schwere Zeiten. Auch unser Leben ist manches Mal mühsam.
Die Hirten waren wohl Angestellte, die sich um die Herde eines reicheren Menschen zu kümmern hatten. Der Lohn wird nicht üppig gewesen sein. Zudem lebten sie meist im Freien und rochen wohl auch so. Ihnen wird das nicht so viel ausgemacht haben, solange sie untereinander geblieben sind. Wenn sie aber mit feineren Leuten zusammenkamen, fielen sie auf als „die von draußen“. So wirken die Gesichter auch: hart, naturerprobt, nüchtern.
Und dann dieser zarte, tatsächlich überirdisch wirkende Engel. Mit Kranz im Haar ist seine Haltung wie bei einem Tanz. „Schaut auf mich“, scheint er zu sagen, „sollte ich euch belügen? Euch ist heute der Heiland geboren.“ Dabei schwingt der Engel mit seinen Armen wie mit seinen Schwingen. Alles an ihm passt zusammen. Nur er selbst passt nicht zu den Hirten, auf die, übrigens, alles Licht, warmes Licht fällt auf diesem Bild.
Euch, sagt der Engel, euch ist heute der Heiland geboren, der Messias, der Retter. Dieses „Euch“ ist wichtig. Denn die nüchternen, hartgesichtigen, zweifelnden Hirten sind ja die ersten Menschen auf der Welt, die diese Botschaft erhalten. Und es irgendwie nicht fassen können oder wollen. Uns? Uns ist wer geboren? – erkennen wir in den Gesichtern. Selbst das weiß-rot gefleckte Rind wirkt ungläubig – und nur ein Hirte scheint seine Mütze abgenommen zu haben angesichts dieser überirdischen Erscheinung.
Den Hirten geht es wie uns: Manchmal möchte man gerne glauben; und schafft es doch nicht.
Der Schöpfer dieses Bildes ist der Maler Heinrich Vogeler. Er wurde in Bremen geboren und war mit vielen Talenten gesegnet. Er malte, zeichnete, entwarf Häuser, übte sich in Pädagogik und im Verfassen von Dramen. Seine bürgerliche Welt, unter anderem auch im Künstlerdorf Worpswede nordöstlich von Bremen, wurde ihm bald zu eng; sein Malen im Geiste des Jugendstils auch. Er neigte dem Kommunismus zu und wanderte in die Sowjetunion aus. Als Deutschland 1941 Russland überfiel, wurde Vogeler als Deutscher in Russland nach Kasachstan zwangsdeportiert, wo er 1942 starb.
Auf diesem Bild aber ist noch alles leicht, luftig; jedenfalls das, was vom Himmel kommt. Ein Engel in sanften Gewändern – über ihm der Weihnachtsstern – trifft auf zweifelnde Hirten. Die Leichtigkeit des Himmels trifft auf die Schwere der Erde. Und sie ist wirklich schwer. Das Leben ist schwer; für uns alle. Nicht jedem und jeder sieht man es an; aber Schwere haben wir alle. Es gibt kein Leben, das nur leicht ist. Auch nicht in unserem immer noch lebenswerten, freien und reichen Land.
Die Leichtigkeit des Himmels trifft hier wie im Tanz auf die Schwere der Erde und verkündet etwas. Wir sollen uns nicht fürchten, verkündet der Engel, auch wenn uns alles vielleicht tonnenschwer auf uns lastet.
„Fürchtet euch nicht!“
Jemand hat mal nachgezählt: 366mal heißt es in der Bibel: „Fürchte dich nicht!“ Für jeden Tag im Jahr einmal. Jeden Tag beim Erwachen sagt Gott uns zu: Fürchte dich nicht, hab keine Angst!“. Das gilt für den Tag und für die Nacht. Immer, ein ganzes Jahr lang. Und dann geht es wieder von vorne.
Ist das nicht wunderbar? Wir haben nichts zu fürchten, denn Gott ist an unserer Seite. Für uns hat er Jesus Christus gesandt.
Mit seiner Botschaft schafft es der Engel, dass sich die Hirten in Bewegung setzen. Sie überwinden ihre Zweifel und machen sich zum Stall auf. Ställe kennen sie, da sind sie zu Hause. Und treffen auf den Heiland als Kind in der Krippe. Im Kind und im Stall erkennen und fühlen sie, dass Gott sich ihnen zuneigt. Gott kommt dahin, wo die Hirten zu Hause sind, wo ihnen niemand etwas vormachen kann. Und sie gehen lobend und dankend zurück an ihre Arbeit.
Fürchtet euch nicht! So schwer unser Leben manchmal auch ist, diese Frohe Botschaft strahlt wie ein Stern am Himmel. Mit ihre können wir getrost und getröstet in diese Tage gehen und auch in das neue Jahr. Gott ist und bleibt an unserer Seite. Amen