Lätare: Jesaja 54,7-10
Liebe Gemeinde!
In vielen Städten gibt es seit einiger Zeit sogenannte Repair-Cafés. Auch bei uns in Nienburg. Dort werden Besucherinnen und Besucher dazu eingeladen, kaputte und beschädigte Geräte und Gegenstände mitzubringen, die dann von Mitarbeitenden repariert werden.
Immer mehr Menschen nutzen solche Repair-Cafes. Es scheint so, als ob nach langen Jahren der Wegwerfkultur an vielen Stellen ein Umdenken einsetzt.
Ich habe hier einen Tonkrug mitgebracht. Vor Jahren war er mir runtergefallen und in viele Teile zerbrochen. Meine Frau hat ihn wieder zusammengeklebt und wieder heile gemacht. Es wäre schade gewesen, ihn wegzuwerfen.
Haben Sie das auch schon mal gemacht? Ein Gefäß, einen Krug, eine Schale oder Tasse, wieder zusammengesetzt nach einem Bruch?
In Japan gibt es eine jahrhundertealte Kunst der Keramikreparatur, die sich genau diesem Ziel widmet. Sie nennt sich Kintsugi, was übersetzt so viel bedeutet wie „Goldreparatur“. Bei dieser Reparatur werden die Bruchstellen der Krüge und Schalen mit einem besonderen Lack neu zusammengeklebt, der mit feinstem Goldstaub vermischt ist.
Dadurch werden die Bruchstellen und Risse nicht übermalt oder kaschiert, sondern – ganz im Gegenteil – besonders hervorgehoben und sichtbar gemacht. Denn in der Kunst des Kintsugi werden die Brüche nicht als ein Makel (Fehler) wahrgenommen. Sie tragen stattdessen dazu bei, dass aus dem neu zusammengefügten Gefäß ein besonderes Kunstwerk wird. Es ist das Leuchten der goldenen Bruchstellen, die das Gefäß zu etwas Besonderem machen. Aus dem Zerbrochenen entsteht etwas Neues, Kostbares.
Risse, Erschütterungen und Zerbrüche, das kennen manche von uns aus dem eigenen Leben: Eine schwere Krankheit, eine Trennung, Streit, Verlust, oder der Tod eines geliebten Menschen. Das daraus aber etwas Neues entsteht, das ist nicht immer zu erkennen, geschweige denn, dass es dafür eine Garantie gibt. An manchen Erschütterungen kann man zerbrechen. Und doch kommt es immer wieder vor, dass Menschen gestärkt aus einer verfahrenen Situation hervorgehen, dass Risse geheilt werden, dass es neue Zuversicht und Hoffnung gibt.
Einen Zerbruch, einen Riss und eine tiefe Erschütterung erleben die Israeliten vor mehr als 2.500 Jahren. Ihr wesentliches Fundament des Glaubens ist ihr prächtiger Tempel. Eine Art sichtbare Garantie, dass Gott nahe ist. Dann wird dieser Tempel zerstört. Die Israeliten bleiben untröstlich zurück, mit einem tiefen Gefühl der Gottverlassenheit. Sie bleiben zurück mit der Frage, ob es im Angesicht dieser Ereignisse überhaupt noch möglich ist, zu glauben und zu hoffen. Was kann einem Menschen, einem Volk Trost und Hoffnung geben, wenn alle Hoffnung in Trümmern liegt? Was trägt, wenn die bewährten Fundamente nicht mehr tragen?
Schon vor rund 2.500 Jahren hat sich der Prophet Jesaja mit dieser Frage beschäftigt.
Er versucht, den Menschen mit seinen Worten neue Hoffnung zu geben, sie zu trösten: Er schreibt Ihnen: „Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer.“
Er sagt den Menschen, die an einem Tiefpunkt stehen: Auch wenn Ihr jetzt keinen festen Grund mehr unter euren Füssen spürt, seid ihr umgeben und gehalten von einer göttlichen Gegenwart.
Er sagt den Menschen, die an einem Tiefpunkt stehen: Auch wenn Ihr jetzt keinen festen Grund mehr unter euren Füssen spürt, seid ihr umgeben und gehalten von einer göttlichen Gegenwart.
Gerade diese Worte des Propheten werden oft als Konfirmationsspruch von jungen Menschen ausgesucht, die ihren Weg noch vor sich haben, einen Weg, von dem sie heute noch nicht wissen, wie er sein wird, mit welchen Schwierigkeiten und Herausforderungen sie rechnen müssen. Auch wenn es ganz schwierig wird, und alles zusammenbricht, sagt Gott, meine Gnade soll nicht von dir weichen. Auch in den Rissen und Zerbrüchen deines Lebens bin ich bei dir.
Auch Jesus, der von seiner Ausbildung her Zimmermann war, hat sich in seinem ganzen Leben um die Risse und Zerbrüche der Menschen gekümmert. Mit einem weiten Herzen hat er ihre Verletzungen und Brüche liebevoll angesehen und geheilt.
Er war ein wahrer Meister des Kintsugi. Sein Werkzeug, sein Goldstaub, war die Liebe – und die Fähigkeit, keinen Menschen aufzugeben.
Selbst den größten und ultimativen Zerbruch – den Tod – hat er aus dieser Perspektive der Hoffnung gesehen. Wahrscheinlich hatte Jesus schon seinen eigenen Tod am Kreuz vor Augen, als er zu seinen Jüngern sagte: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht.“ (Joh. 12,24)
Im „Sterben“ und Aufbrechen verändert das Weizenkorn seine äußere Form. Aber selbst dieser Zerbruch trägt schon – zunächst noch unsichtbar und unter der Erde verborgen – den Keim eines Neuanfangs in sich.
Darin verbirgt sich das tiefe Vertrauen, dass Gott selbst aus dem Zerbruch am Ende unseres Lebens etwas ganz Neues erwachsen lässt. Aus diesem Vertrauen erwächst die Einladung zu einem wahrhaftigen Leben, das die Risse und Verletzungen nicht übermalt oder ausblendet, sondern sie immer wieder in Gottes Hände legt. Daraus erwächst ein Leben, das nicht dem Ideal von Perfektion und Makellosigkeit hinterherläuft, sondern darauf vertraut, dass mein Leben mit allen Brüchen und Scherben in der Hand Gottes steht – dem, so könnte man sagen, großen Kintsugi-Meister meines Lebens.
Darum geht es in der Passionszeit des Kirchenjahres, in der wir uns gerade befinden. Die Zeit von 40 Tagen lässt bewusst Raum für dunkle und schmerzhafte Erfahrungen, die viele lieber überspringen und verdrängen würden. Für die Zerbrüche und Risse meines Lebens, die ich nur allzu gut kenne. Die Passionszeit schafft einen Raum, um uns der Zerbrechlichkeit unseres Lebens und unseres Glaubens zu stellen und anzuerkennen, dass wir unser Leben nicht in der Hand haben. Gerade dieses Eingeständnis kann Raum schaffen für ein neues Vertrauen. Mitten in unserer Ratlosigkeit sind wir gehalten von einer Hand, die uns die Krisenerfahrungen nicht erspart, aber uns durch sie hindurchführt und Neues wachsen lässt.
So teilen wir miteinander als Gemeinde unsere offenen Fragen, wenn alte Sicherheiten uns nicht mehr tragen. Aber wir teilen miteinander ebenso unsere Hoffnung, dass es eine Kraft gibt, die uns auch noch trägt und begleitet, wenn „Berge weichen und Hügel hinfallen“. Mit unseren Erschütterungen und mit unserem Glauben bleiben wir vor Gott – in der Hoffnung, dass seine Gegenwart größer ist als beides.
Amen