Judika 2021 – Hiob 19,19f
Neulich fiel mir ein erschütternder Bericht einer indischen Frau in die Hand. Ich las von Amina und ihrem Schicksal, das sich vor vielen Jahren in Mumbai, der Hauptstadt von Indien zugetragen hat. Amina ist heute 64 Jahre alt und lebt unter Plastikplanen mit all ihrem Hausrat irgendwo am Strand von Mumbai, zusammen mit ihrem Sohn, ihrer Schwiegertochter und ihren drei Enkelkindern. Jeden Abend malt die Sonne ein anderes schönes Bild über dem Meer. Amina sagt, dass trotz aller ihrer Probleme hier der Ort des Glücks ist. Doch vorher hatte sie Schreckliches erlebt. Als Amina 12 Jahre alt war, wurde sie an einen Mann verkauft und von ihm vergewaltigt. Blutend und schluchzend kam sie nach Hause, doch ihr Vater verprügelte sie und brachte sie in ein Kinderheim. Mit 18 kam sie aus dem Kinderheim und wurde sofort von ihrem Vergewaltiger bedroht. Er wolle sie mit Säure übergießen, wenn sie nicht zu ihm käme. Alle um sie herum drängten sie dazu. So geht sie zu ihm, bekommt drei Kinder und landet am Schluss von ihm verstoßen auf der Straße. Sie ist völlig verzweifelt. Aber dann geht es wieder bergauf. Doch auch ein anderer Mann bringt ihr kein Glück, er schlägt sie und verstößt sie. Am Schluss zieht sie Bilanz: Von ihren sechs Kindern waren zwei an Krankheiten gestorben, zwei musste sie wegen Armut weggeben und so fand sie sich am Schluss einzig und allein mit ihrem Sohn am Strand von Mumbai wieder.
So schwere Schicksale kennen wir hierzulande kaum, aber Not, Elend und Armut sind auch bei uns mit Händen zu greifen. Immer mehr. Wir erkennen sie in den Gesichtern der Menschen auf der Straße, an deren Körperhaltung, der Kleidung und, wenn wir Einblick haben, oft auch an den Wohnungen. Solche Armut gibt es auch heute, weltweit sowieso, aber eben auch bei uns in unserem immer noch reichen Land. Vielleicht sehen wir sie selten. Aber ein Gang durch eine der glitzernden Einkaufsstraßen lässt schnell erkennen, dass Menschen im wahrsten Sinne des Wortes herunterkommen können. Sie sitzen dann da und betteln. Und wissen nicht weiter. Denn am nächsten Tag wird es wieder so sein, dass sie sich fragen: Wovon soll ich heute leben? Zu körperlichen Leiden kommen seelische dazu. Die seelischen Nöte nehmen zu, sagen Ärzte und Krankenkassen, gerade auch jetzt in der Coronazeit. Bei Kindern und Erwachsenen.
Und nun möchte ich die Brücke schlagen zu Hiob, von dem wir vorhin gehört haben, zu Hiob, von dem die Bibel ein ganzes Buch mit 42 Kapiteln bereithält. „Es war ein Mann im Lande Uz, der hieß Hiob“. So beginnt das Buch. „Er war fromm und rechtschaffen, gottesfürchtig und mied das Böse. Er hatte sieben Söhne und drei Töchter und er besaß siebentausend Schafe, dreitausend Kamele, fünfhundert Joch Rinder und sehr viel Gesinde und er war sehr reich.“
Und dann verliert dieser Mann alles, was er hat: sein Ansehen, Reichtum, Kinder und sogar seine Gesundheit. All das hat er nicht mehr. Freunde besuchen ihn und halten zunächst tagelang das schwere Schicksal mit ihm schweigend aus. Sehr eindrücklich wird das in der Bibel beschrieben.
Alsdann betont Hiob gegenüber seinen Freunden immer wieder, dass er schuldlos von Gottes Hand so stark geschlagen worden ist. Nun schweigen aber die Freunde nicht mehr, sondern sie behaupten, es müsse doch einen Zusammenhang geben zwischen Tun und Ergehen. Hiob müsse doch etwas Schlimmes getan haben, dass Gott ihn so sehr strafe.
Hiob wird jedoch nicht müde, immer wieder zu betonen, dass er sich keiner Schuld bewusst sei. Selbst als ihm nahegelegt wird, Gott abzuschwören, sich von Gott also zu distanzieren, hält Hiob weiterhin hartnäckig an Gott fest, von dem er sagt, dass Gott ihn schlägt, auch wenn er unschuldig ist. Er hält fest an Gott trotz allem. „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt, und als der letzte wird er über dem Straub sich erheben. Und ist meine Haut noch so zerschlagen und mein Fleisch dahin- geschwunden, so werde ich doch Gott sehen. Ich selbst werde ihn sehen, meine Augen werden ihn schauen…“
Amina hat Schreckliches erlebt und doch ist ihr Glaube an Gott nicht zerbrochen. Genauso wie bei Hiob. Auch sie hadert nicht mit Gott: „Alles, was ich habe“, sagt sie, „ist mein Glaube. Bei allem Schweren, das ich erlebt habe, war meine Reise schön“, sagt sie. Aminas Ort des Glücks ist der Strand von Mumbai. Sie ist zufrieden mit ihrem Leben und mit ihrer Familie. Jeden Abend malt die Sonne ein anderes schönes Bild über dem Meer.
„Ich weiß, dass mein Erlöser lebt.“, sagt Hiob und hält an Gott fest trotz seines schweren Schicksals. Am Ende belohnt Gott Hiob mit einem langen Leben, er gewinnt seinen Wohlstand zurück, ja, er hat sogar noch mehr als vorher. Und Kinder werden ihm geschenkt.
Georg Friedrich Händel hat diesen Satz Hiobs in seinem Oratorium „Der Messias“ in eindrücklicher Weise vertont. Er war nahe dran, zu sterben, einen schweren Schlaganfall hatte er erlitten, der große Friedrich Händel, doch dann, erholte er sich wie durch ein Wunder wieder. Ein neuer Auftrag kam in Form eines Textes herein. In einem unglaublichen Kraftakt, der über viele Tage und Wochen ging, vertonte er diesen Text. Es entstand das Oratorium „Der Messias.“ Händel wurde wieder gesund. Am Ende konnte er sagen, dass Gott mit ihm gewesen sei und ihm die Kraft zum Aufstehen und die Inspiration zu diesem Werk gegeben habe. 1742 wurde „Der Messias“ in Dublin uraufgeführt.
„Ich weiß, dass mein Erlöser lebet und dass er erscheinet am letzten Tage dieser Erd. Wenn Verwesung mir gleich drohet wird dies mein Auge Gott doch sehn. Denn Christ ist erstanden von dem Tod. Der Erstling derer, die schlafen.“
Ob wir Hiob das nachsprechen könnten, wenn es uns geht wie ihm? Wenn uns alles wegbricht, wenn uns alles entrissen wird, was uns lieb und wert ist? Uns so an Gott klammern?
Ich weiß, auch wenn ich gar nichts mehr weiß, dass mein Erlöser lebt.
Und auch wenn meine Augen noch tränenblind sind: Ich werde ihn sehen.
Hören wir zum Schluss diese wunderbare Arie aus dem Messias. Die Aufführung hat in Nienburg im Jahre 2003 stattgefunden.