Karfreitag – Matth. 27,33-55
Die Mutter ist gestorben. Die Kinder werden benachrichtigt. Sie reisen an. Der Vater muss ihnen vom Sterben der Mutter erzählen. Die Kinder wollen es wissen: Wie ist sie gestorben? Hat sie leiden müssen? War sie bei Bewusstsein? War jemand bei ihr, als sie starb? Und: Hat sie noch etwas gesagt?
Wenn jemand gestorben ist, der für unser Leben wichtig war, dann fragen wir nach den Umständen seines Sterbens. Wir wollen das Unfassbare fassen. Wir versuchen uns ein Bild zu machen, mit dem wir leben können.
Der Bibeltextext liest sich wie ein Sterbebericht. Matthäus erzählt vom Sterben Jesu. Er beschreibt die Reaktion der Menschen, die dieses Sterben erleben.
Menschen, die unter dem Kreuz Jesu stehen, Menschen, die daran vorübergehen.
Das sind zunächst die römischen Soldaten. Sie tun ihre Pflicht. Ihr Auftrag ist die Vollstreckung der Todesstrafe.
Nachdem sie Jesus eine Dornenkrone aufgesetzt und ihn verspottet haben, reichen sie ihm einen Trank, der mit Galle vermischt war, eine demütigende Tortur. Kaltblütig veranstalten sie unter seinen Augen ein Würfelspiel um seine Kleider. Nach römischem Brauch wird ein Schuldspruch des Verurteilten zur Abschreckung für andere ans Kreuz geheftet: „Jesus von Nazareth, der König der Juden“. Abgekürzt: INRI
Da sind die Flaneure, also die Vorbeigehenden, das sensationseifernde Publikum. Vielleicht sind sie zur Hinrichtungsstätte gekommen, weil sie von Jesus gehört hatten oder ihm begegnet sind. Vielleicht haben sie sich über ihn geärgert, vielleicht hat er sie beeindruckt. Es scheint, als müssten sie heute eine Distanz zwischen sich und ihm errichten. Zu bedrängend ist die Nähe dieses Menschen, der da am Kreuz hängt: „Hilf dir doch selbst, wenn du Gottes Sohn bist.“
Auch die Frommen (die Hohenpriester und Schriftgelehrten, die religiösen Eliten) haben sich eingefunden. Ihnen ist Jesus seit langem ein Dorn im Auge; dieser Zimmermannssohn aus Nazareth, einer der so weit ging, dass er den Sabbat in Frage stellte, als er sagte: „Der Sabbat ist um des Menschen willen da und nicht der Mensch um des Sabbats willen“. Einer, der es wagte zu behaupten, der Sohn Gottes zu sein.
Da wurden mit ihm zwei Räuber gekreuzigt, einer zu seiner Rechten, einer zu seiner Linken, zwei, die sein Schicksal teilen. Sie schmähen Jesus, sie machen sich lustig über diesen jämmerlichen König der Juden. Mit so einem Verlierer wollen selbst sie nichts zu tun haben. Sie ergreifen die Partei der gemeinsamen Henker. Keine Solidarität der Opfer. Nicht einmal im Angesicht des gemeinsamen Todes.
Nicht nur das einfache Volk, nicht nur die theologischen Gegner, die die alte Ordnung verteidigen, selbst seine Leidensgenossen distanzieren sich von Jesus.
Und seine Freunde? Die haben es mit der Angst zu tun bekommen. Die haben die Flucht ergriffen. Nur aus der Ferne, berichtet Matthäus, beobachten einige Frauen das grausige Geschehen auf Golgatha. Hier enden mit dem Leben Jesu auch ihre Hoffnungen. Sie haben ihm vertraut, haben Heimat, Arbeit und Familie hinter sich gelassen. Sie sind mit ihm durch das Land gezogen, haben seine Predigten gehört. Sie haben Zeichen und Wunder gesehen und erfahren, wie nahe Gott sein kann. Und nun zerplatzen alle Hoffnungen wie Seifenblasen am Kreuz.
Jesus schreit zum Himmel: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Aber der Himmel schweigt.
Ist das also ein Selbstgespräch, eine Klage, die ungehört verhallt?
Liebe Gemeinde! Es ist Karfreitag. Und wir wollen auch beim Karfreitag bleiben und den schweren Tag aushalten. Jesus stirbt am Kreuz. Die Sonne verfinstert sich, die Erde bebt, Gräber öffnen sich, der Vorhang im Tempel zerreißt, was da geschieht, hebt die Welt aus den Angeln.
Matthäus überliefert für uns auf dieses Geschehen in Golgatha die Reaktion nur eines Menschen, eines römischen Hauptmanns und seiner Männer. Sie erkennen, dass am Kreuz kein Verbrecher hängt und finden auch Worte dafür: „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen.“
So erzählt Matthäus von jenem Karfreitag und von dem Leid, das es immer noch in der Welt gibt, bis heute.
Menschen sterben und niemand ist bei ihnen, der ihnen die Hand hält. Nicht bei den Menschen in der Ukraine, nicht bei denen an anderen Orten der Grausamkeit und des schweren Leides. Nicht bei denen, die niemanden haben, der ihnen nahe ist und in der Anonymität eines Krankenhauses sterben.
Das „Warum“ bleibt und tut weh. Es ist die alte Frage nach dem Sinn von Leid und Schmerz, nach dem Sinn des Sterbens. Warum Kriege, Terror, Naturkatastrophen? Warum Krebs und Corona? Warum lässt Gott das alles zu? Hat Gott noch mit uns und unserer Wirklichkeit zu tun?
Es sind Karfreitagsfragen, bohrend, schmerzend.
Wenn wir so fragen, dann beben die Fundamente unseres Lebens. Dann sehen wir keine Sonne mehr, dann ist es nur noch dunkel in uns.
Was ich mitnehmen möchte an diesem Karfreitag, jenseits frommer Worte und zu schneller österlicher Hoffnung ist dieses: Auch bei Jesus bleibt die Frage nach dem „Warum“. Das macht ihn mir sehr menschlich. Ein Mensch, der den Zweifel kennt und die Angst und den Schmerz des Verlassenseins. Ein Mensch, der Fragen und Zweifel, Klage und Trauer nicht für sich behält, sondern herausschreit in der Hoffnung: Gott hört. Gott ist da. Mitten im Tod.
Seht, welch ein Mensch. Dieser Mensch ist der Sohn Gottes.
Und so weist dieser traurige Karfreitag uns auch einer Spur in Richtung Versöhnung, in Richtung der Liebe, die selbst der Tod nicht vernichten kann. Eine Spur in Richtung Hoffnung, die man niemals aufgeben sollte. Denn Gott gibt niemanden von uns auf.
Amen