Liedpredigt: „So nimm denn meine Hände“
„So nimm denn meine Hände und führe mich“. Was ist das nur für ein Lied, liebe Gemeinde? Ein Lied, das Menschen immer wieder die Tränen in die Augen treibt?
Viele Menschen sind in den vergangenen 150 Jahren von diesem Lied getröstet und gestärkt worden.
Viele können diese drei Verse, vielleicht als letzte Verse überhaupt, noch auswendig. Es ist das Lied, das sich die meisten Menschen bei der Beerdigung eines Lieben Angehörigen wünschen.
Was ist dran an diesem Lied, das vielen so guttut?
Den Text dazu hat eine Frau geschrieben: Julie Hausmann. Sie hat gelebt zwischen 1826-1901. Viel ist über sie nicht zu erfahren. Sie wächst als Tochter eines Lehrers auf. Sehr jung lernt sie ihren späteren Ehemann kennen. Sie verliebt sich in diesen jungen Mann, einen Pastor. Der sieht seine Berufung darin, Menschen, die noch nie etwas von Gott gehört haben, etwas darüber zu erzählen. Er will unbedingt Missionar in Afrika werden. Seine Papiere sind schon fertig, der Abreisetermin steht fest, ausgerechnet als die beiden sich kennen lernen. Sie verloben sich, und dann fährt er nach Afrika. Einige Zeit später hat auch Julie die nötigen Papiere zusammen, um ihrem Verlobten hinterher zu reisen. Nach mehrwöchiger Reise kommt sie an, aber der Verlobte ist nicht da, um sie zu empfangen. Sie fragt nach ihm. Trauriges Kopfschütteln. Endlich nimmt sich jemand ein Herz und führt sie etwas abseits zum Friedhof der Missionsstation. Dort hatte man drei Tage vor ihrer Ankunft den Verlobten beerdigt. Noch am gleichen Abend, so wird jedenfalls erzählt, setzt sich Julie Hausmann hin und schreibt dieses Lied:
„So nimm denn meine …(1. Strophe)
Singen
Das ist ihre Antwort auf diesen Tod, auf den Verlust des liebsten Menschen, mit dem sie eine Familie gründen wollte, dem sie nach Afrika gefolgt ist und an dessen Grab sie jetzt steht.
In wessen Hände lege ich jetzt mein Leben? fragt sie sich. Und ihre Antwort ist klar: in Gottes Hände. Er wird mich nicht verlassen, er wird mich führen, jetzt und ewiglich.
Als ich das alles über diese Frau gelesen hatte, ging mir die Frage durch den Kopf: Wie kann ein Mensch in dieser Situation ein solches Lied schreiben? Die Frau hat doch alles verloren, was ihr wert und teuer war und steht nun vor einem Scherbenhaufen. Ich hätte eher erwartet, dass sie jetzt hadert, dass sie schreit, Gott anklagt, weinend zusammen-bricht. Aber nichts davon geschieht. Nur dies: „So nimm denn meine Hände und führe mich.“
Ihr Lied ist damals ein überraschend schneller und großer Erfolg. Bereits 7 Jahre später ist es in ganz Deutschland und in der Schweiz bekannt.
Bei einer Missionsveranstaltung erzählt ein Pfarrer, habe er es auf dem Bahnhof in Basel aus allen Wagen fröhlich singen hören.
Fröhlich, wohlgemerkt, und nicht zu Tode betrübt. Es ist also durchaus erlaubt von einem Siegeszug dieses Liedes zu sprechen. Die Worte geben einer tiefen Sehnsucht Ausdruck. Und so ist es bis heute geblieben.
In der Geschichte dieses Liedes war es nie eindeutig, wohin es eigentlich gehört. Viele Ältere erzählen, sie hätten es als Konfirmationslied gesungen und gelernt. Eine längere Zeit war es äußerst beliebt als Lied zur Trauung. So kenne ich es auch aus meiner siebenbürgischen Heimat. Keine Trauung ohne dieses Lied.
Da dieses Lied keine direkte Anrede hat, meinte man wohl, es auch auf die Partnerin oder den Partner beziehen zu dürfen. In einer deutschen Gemeinde in Ostpreußen wird es bis heute immer am Ende des Gottesdienstes gesungen, wenn sich die Gemeinde wieder zerstreut.
Diese erste Strophe drückt das Vertrauen eines Menschen aus, der sein Leben mit Gott führt. Er weiß sein Leben vom Anfang bis zum Ende geleitet von der verborgenen Führung Gottes.
Vielleicht würden wir andere Worte gebrauchen als diese, aber es ist doch ebenso unsere Sehnsucht nach einem Getragen werden in der Welt und im Leben.
„Ich mag allein nicht gehen, nicht einen Schritt, wo du wirst gehen…“ So dichtet Julie Hausmann über ihre Hoffnung. So gibt sie ihrer Sehnsucht Ausdruck, die andere in die Worte gefasst haben: „Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir.“ (Psalm 23).
„In dein Erbarmen… 2. Str. + 3. Str.
Singen
Es ist die Melodie, aber es sind auch die Worte dieses Liedes, die uns so ans Herz gehen.
„In dein Erbarmen hülle mein schwaches Herz“ und
„Lass ruhn zu deinen Füssen dein armes Kind“ , „du führst mich doch zum Ziele auch durch die Nacht.“
All das, was wir bei einem Abschied von einem lieben Menschen erleben, die ganze Hoffnung über den Tod hinaus, wir können sie in diesen Worten wiederfinden. Es ist eine Sehnsucht, die aus einem verzagten Herzen kommt, das manches nicht versteht, manches erleidet und auch manches dunkle Tal durchschreiten muss.
Lassen wir uns umarmen von dem liebevollen Erbarmen Gottes. Eingehüllt in einen warmen, flauschigen Mantel voller Wärme, Frieden und Güte.
Doch es gibt auch Zeiten, da merken wir nichts von Gottes Macht, nichts von seiner Nähe und Güte…
Dann ist unser Glaube nichts anderes als ein Trotzdem. Trotzdem glaube ich, trotzdem will ich Gott vertrauen.
„Wenn ich auch gleich nichts fühle von deiner Macht, du führst mich doch zum Ziele…“.
Gott führt uns auf ein Ziel zu, das ewige Leben.
Es ist gewiss kein Zufall, dass dieses Lied keine direkte Anrede hat und die Dichterin es offenlässt, ob sie in ihren Bitten nicht doch auch einen Menschen meint, der sie im Leben begleitet und die Lasten mit ihr trägt. Wir müssen das auch gar nicht entscheiden. Der Sehnsucht ist es sowieso gleich, wer sie heilt. Ob Gott sie heilt als allmächtiger, erbarmender, mitgehender Gott, oder aber Gott als Mensch mitgeht, der wie ein Hirte, freundlicher Nachbar oder liebender Mensch Acht gibt auf mich, mir Rat gibt, einen richtigen Weg weist… Der Sehnsucht ist es gleich, wer sie heilt. Wichtig allein ist, dass wir sie uns eingestehen und sie ganz ernst nehmen.
Doch eine einfache Erfüllung unserer Sehnsucht gibt es nicht. Viele Sehnsüchte bleiben sicher ungestillt. Ich kann wohl nur darauf hoffen und auch darum bitten wie hier in diesem Lied.
Erfüllung ist oft eine kleine Münze, ein Stück nur, ein Schritt nur, einen Tag oder eine Stunde Trost. Ich darf mich nicht blenden lassen von der Größe meiner Sehnsucht. Der tägliche Trost Gottes, der mir gegeben wird, ist oft bescheidener, leiser, und darum auch leichter zu übersehen und zu überhören. Aber Trost gibt es doch.
Erzählen wir uns also, still und auch singend, von dem Sehnen und Hoffen auf Gottes Trost und Beistand. Dann werden wir bald entdecken, wie unsere eigene Sehnsucht manchmal auch schon dadurch gelindert wird, dass wir sie einem anderen Menschen erfüllen.
Amen.