Predigt am Sonntag Rogate (17.5.20)
Von Pastor Seivert
Die ehemalige Bischöfin Margot Käßmann weiß, was ihr fehlt, wenn ihr die eigenen Worte fehlen: Ein Gebet. Nicht irgendeines, sondern das Vaterunser. Für Frau Käßmann genau das Gebet in schwierigen Zeiten. Damit steht sie nicht alleine da. Gerade jetzt, wo es so viele Einschränkungen wegen der Corona- Pandemie gibt, wir monatelang auf die körperliche Gemeinschaft verzichten mussten, doch nicht auf die im Geiste. Da sind wir weiterhin miteinander verbunden.
Gott sei es gedankt, dass diese Regeln nun nach und nach gelockert werden. Wir dürfen uns seit voriger Woche wieder zum Gottesdienst versammeln und gemeinsam beten, natürlich immer noch unter strengen Regeln.
Hände waschen ist eine dieser wichtigen Regeln. Gründlich und nicht zu kurz soll es sein. Einige sagen, so lange sollen wir uns die Hände waschen, wie es dauert, zweimal hintereinander „happy birthday“ zu singen. Und ich sage heute: So lange wie es dauert, bis wir einmal das Vaterunser beten. Denn, wer sich wirklich sicher sein möchte, seine Hände auch ausreichernd gesäubert zu haben, sollte sich etwa 30 Sekunden dazu Zeit nehmen. So lange dauert es nämlich, das Vaterunser zu beten. Probieren Sie es doch zu Hause einmal aus!
Was ist das Vaterunser für ein Gebet, wo kommt es her? Das Vaterunser ist nicht irgendein Gebet, es ist das Gebet, das 2,3 Milliarden Christinnen und Christen weltweit konfessionsübergreifend miteinander verbindet. Es fehlt in fast keinem Gottesdienst. Es gehört, neben dem Segen am Schluss, zu den Höhepunkten des Gottesdienstes. Auch auf dem Friedhof, bei Beerdigungen, darf es nicht fehlen.
Das Vaterunser prägt wie kein anderes Gebet das Wertesystem der christlichen Welt. Es ist das Gebet, welches auf Christus selbst zurückgeht. Es ist Teil der Bergpredigt aus dem 6. Kapitel des Matthäusevangeliums.
Vor allen Pflichten, vor allen Aufgaben und Geschäften, sollte das Gebet, das Reden mit Gott stehen. Wir dürfen und sollen Gott alles sagen. Unseren Dank, unsere Bitte, auch die Klage und unsere Sorge und auch die Fürbitte für andere nicht vergessen. So ermahnt uns der Apostel Paulus heute in der Epistel dieses Sonntages Rogate: „So ermahne ich nun, dass man vor allen Dingen tue Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen…“
Da sind die Landwirte, da sind die Hobbygärtner, die auch gerade jetzt wieder unter der sich mehr und mehr ausbreitenden Trockenheit stöhnen. Es wird dringend Wasser gebraucht. Sie bitten Gott um Regen. Da ist der Familienvater, der aufgrund der Corona-Krise zur Kurzarbeit heimgeschickt worden ist. Nun fragt er sich, ob er seine Familie noch ausreichend ernähren kann. Da ist die kranke Frau, die schon so oft operiert und therapiert wurde und nur noch eine Sehnsucht hat: „Heile mich, Gott, von meiner Krankheit.“
Etwas von Gott zu erbitten ist zutiefst menschlich. Dazu ermutigt uns die Bibel immer wieder.
Davon, von dem Gebet nämlich, lebt unser Glaube. Der jüdische Philosoph Martin Buber hat einmal gesagt: „Wäre Gott nur einer, über den man reden kann, würde ich nicht glauben. Weil er aber ein Gott ist, zu dem und mit dem man reden kann, darum glaube ich an ihn.“
Doch wie beten wir richtig? Genau diese Frage haben die Jünger einmal Jesus gestellt. Wie geht beten? Den Jüngern ging es offenbar auch so wie uns. Dass sie manchmal, nicht wussten, was und wie sie beten sollten. „Nicht so sollt ihr es machen, wie die Heuchler“ , sagt er, „die beten und viele Worte machen und sich dabei nur den Leuten zeigen wollen. Euer himmlischer Vater weiß, was ihr braucht.“
Und dann gibt er ihnen das Vaterunser an die Hand.
Ich möchte dieses Gebet mit einem Geländer vergleichen. An einem Geländer kann man sich festhalten, damit man nicht zu Fall kommt. Daran kommt man weiter, man rutscht nicht ab.
Ich fasse das Vaterunser einmal kurz so zusammen: Die Welt ist nicht in unserer Hand. Und auch diejenigen sind nicht in unserer Hand, die wir lieben, sosehr wir uns auch um sie sorgen. Sie sind nicht in unserer Hand. Ich selbst bin nicht in meiner Hand. Aber da ist etwas, vielmehr, das ist jemand: Gott, den wir als unseren Vater, aber gewiss auch als unsere Mutter nennen dürfen, da ist der Himmel, da ist Vergebung und Erlösung. Wir nennen und heiligen, also ehren, Gottes Namen, wir bitten, dass sein Reich komme und unter uns wohne, ein Reich des Friedens und der Gerechtigkeit. Tag für Tag geschehe sein Wille. Tag für Tag gibt er uns unser tägliches Brot, also all das, was wir zum Leben brauchen, auch Freundschaft, gute Nachbarn, Gesundheit und Frieden, wie es Martin Luther in seinem Kleinen Katechismus sagt. Und er vergibt uns, wo wir schuldig geworden sind. Gleichzeitig erwartet er von uns, dass wir uns auch gegenseitig unsere Schuld vergeben sollen… Gott ist größer als wir. Von ihm kommen wir. Zu ihm gehen wir. Er weiß, was gut für uns ist, noch bevor wir ihn darum bitten.
Schließlich: Beten kann auch sein: Etwas zu tun. Beten und Tun gehören nämlich zusammen. Die alte mönchische Benediktinerregel lautet: Ora et labora, das ist lateinisch und bedeutet: Bete und arbeite. Beides zusammen wird uns zum Segen.
Von einer jungen Frau las ich einmal, wie stolz sie auf ein kleines Erbstück ihrer Oma war. Ein Fingerhut mit eben dieser Inschrift: Ora et labora.
Eine weise Regel, wie ich finde. Kontemplation und Aktion. Beides brauchen wir. Das Gebet ist eine Kraftquelle für unsere Arbeit, für unser ganzes Leben. Dazu helfe uns Gott! Amen